Im Käfig des Lichtstrahls

An der Wand stehen.

Es scheint, als ob noch Frühling sei,

blattlose Bäume zeichnen Schattenfraktale an die weiß gekalkte Wand.

Mit dem Rücken an der Wand stehen.
Die Hände zwischen Rücken und Wand geklemmt.
Zehenspitzen ertasten den Boden.
Hohe Fenster.
Lange Romben,
Matten aus Sonnenlicht
schieben sich bedächtig an die Wand heran,
zögern,
und knicken hoch.

Auf den Füßen,
dann auf den Beinen bündelt sich Wärme.
Augen schließen,
von den warmen Wellen bedrängen lassen.
Das Gesicht horcht in die vibrierenden Unregelmäßigkeiten der schattenwerfenden Zweige.
Die Hände auf der Wand erfassen wohin der Lichtrand steigt.
Die Ränder des Sonnenfeldes.
Weißes Orange stößt gegen kälteres Preußischblau der Schatten.
An der Kante entlang Warm und Kalt scheiden.
Oben ein in einem schnellen Winkel zurücklaufender Rand.
Lichtformen begreifen.
Auf der Wand sind sie flach und ihr greller Widerschein
sticht unter die geschlossenen Lider.

Lichträume.
Strahlenbündel greifen.
Im Lichtkäfig stehen, der langsam an der Wand entlang wandert.

Raumgreifend tasten.

Raum.

Von der zweiten Dimension in die dritte.

Vor tasten.

Im Käfig des Lichtstrahls gefangen,
oder geborgen. Mit ihm verschoben, sich ausfalten und an den Kanten wieder zusammen sammeln. Von der vierten Dimension in die Ecke getrieben.
Mit weiten Armen den warmen Lichtkasten um sich herum schließen, und
in den Raum vorbauen.
Wandernde Lichtskulptur.

Die Sonne stünde eine Weile still.

Kurze Hybris, Lichtstrahlen dirigieren und skulptieren zu können oder
ihnen doch ausgeliefert sein, eingeschweißt.

Blaukalte Schattenflächen streiten mit warmen prismatischen Räumen.
Manchmal muss blitzschnell hingegriffen werden,
heiße Punkte fassen
und fallen lassen,
dann wieder ohne Eile an der langen Wand entlang gleiten und die warmen Strahlen
ausspannen.
Wandelnder Lichtraum.
Mit Händen und Füßen brennende Strahlen als punktierte Zeichnung
an allen Seiten feststecken.
Entgleitende Strahlen packen.
Der Käfig wird eng.

Wo das angefangen hat und wohin das führt?
Dann
schrumpft alles, bis die unscharfe Schattenschrift der Zweigfraktale
in dem gleichgültigen Grau der Schattenwand versinkt,
die Wand kalt
und du in die Enge getrieben,
nur stehst,
mit dem Rücken an der Wand
im Schatten.

2019 /2004do

ausufern

ausufern Skulptur als Fiktion

Geheimnisvolles Verschwinden der blauen Stühle

In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 2001 leuchtete der Mond voll und verschwiegen.
Sein alabasterner Schein lag auf mattglänzenden Splittern am Ufersaum der Lahn.
Wasserwellenflächen zwischen den Brennnesseln? Hochwasser in Marburg?
Überschwemmung am Lahnufer am Abend vor der Eröffnung des offiziellen Ereignisses „ausufern“ – eine Skulpturenpromenade an der Lahn.
Die Lahn schien über die Ufer getreten. Blau glänzte und schwamm in dem grünen Uferrand.
Zum Glück aber nur auf der stadtabgewandten Seite, unterhalb der Autobahn. Das Wasser der Lahn floss unbeeindruckt dunkel, mit normalem Wasserstand abwärts, beunruhigt nur durch sporadisch vom Himmel gefallene Sternenpunkte, die beim Aufschlagen auf das Wasser silbrig blitzten.
Jenes Wasser aber, das über das Ufer getreten zu sein schien, schlug blaue Flecken an die Beine. Leere Stühle. Blau.
Auf dem Seitenstreifen der Autobahn fuhren noch einmal zwei Lastwagen der Spedition Heinrich Richenbecher vor. Vollgepackt mit den Stühlen aus dem Keller des Phillipinums. Alle perfekt im RAL-Ton Ultramarin spritzlackiert von Jürgen Leege in seiner Autowerkstatt in Kirchhain und der einsatzwilligen Jugendtruppe der Praxis GmbH Marburg, die sie schnell und leise am Ufer entlang wie eine Perlenkette auffädelten. Jahrelang hatten sie verstaubt und verhakt im Keller des Gymnasiums gelagert. Hausmeister Thomas Rühl hatte sie befreit. Wer darauf gesessen hatte, war lange vergessen. Verlegenheit hatte sie blank gerieben. Heftig und plötzlich ist von ihnen aufgesprungen worden, wenn es zur Pause klingelte oder langsam, wenn eine Frage über sie fiel.
Leere Stühle. Einige waren schon seit Jahren blau, angeschlagenene Kanten und helle Kratzer bewiesen das. Andere glänzten frisch lackiert. Späte Spaziergänger fragten sich, ob Türkis oder Mauve noch als Blau zu bezeichnen wäre. Blau, die Farbe des Traums, der Nacht, der Kälte, des Verzichts, des Wassers. „Der Ferne, der Sehnsucht,“ wusste einer hinzuzufügen und zeigte auf einen hellen Kobaltcoelinblauen Stuhl. Leuchtend Ultramarinblau waren die meisten. Vom Mondlicht gekühltes Ultramarinviolett. Kobaltblau hell, Bergblau, Helioblau kaum rötlich, Pariserblau und Preußischblau wässrig. Glattlackiert, getaucht oder mit dem haarigen Pinselstrich widerspenstiger Borsten selbst gerillt. Eine helle Stimme bot ihr Wissen über Goethes Farbenlehre an: „Blau habe auf das Auge eine sonderbare Wirkung. Es sei etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe in ihrem Anblick. Blau habe als Farbe eine Energie, aber in ihrer höchsten Reinheit strahle es gleichsam als Nichts.“
Da müsse man aufpassen, dass einem die Dinge nicht verschwinden.
Auch Mallarmé nannte Blau die Farbe des Nichts.
Wenn Wolken über den Mond zogen, war es dunkel.
„Der da sieht eher aus, wie ein blaugeschlagenes Auge“, brummte einer. Köpfe drehten sich der Stimme zu, ohne den Farbton zu entdecken. Namen wurden erfunden: Lavendelfarbig, wie reife Auberginen, blaue Feigen, mehlig, Erinnerung sei blau und Brombeeren, Hügel in der Ferne, Schatten und Algen im Mittelmeer. Windstille und man sei blau vor Kälte.
Aber es war warm genug. Die meisten Blautöne hatten einen warmen Schimmer, obwohl der Mond mit seinem bleichen Licht Perlmutt über die Glanzlichter goss.
Am Ufer der Lahn entlang fädelte sich die Perlenkette der blauen Stühle. Schwankend, schräg und schief standen sie zwischen Brennnesseln, Springkraut und wilder Möhre. Dicht nebeneinander, manchmal vor- und hintereinander geschoben, Sitzflächen, die wie leicht bewegtes Wasser glänzten. Die Lahn trieb braunschwarz und geruhsam kreiselnd gegenan, abwärts.
Der Mond und die Lichter der Stadt flirrten über die winzigen Wellen, durchbrochen und gelöchert von den mittreibenden Blättern. Ständiges Rauschen von der Autobahn im Rücken und der fernen Eisenbahn verschluckte das leise Gurgeln.
9, 14, 136, 255, 495, 496, 639, 640, 857, 1.008, 1.009, 1.190,
1205, 1.240, 1.278 blaue Stühle!
Das Ende der Reihe verlor sich hinter der Wegbiegung und den dunklen Stämmen der Erlen und Weiden. Einige setzten sich auf die Stühle. Blicke träumten sich. Leise Worte, spitze Töne spritzten leise in das weich quirlende Wasser der Lahn. Beunruhigte Wellen sprangen aus dem stetigen Fließen, das sumpfige Ufer wurde Geruch. Ein kühlerer Wind vertrieb die Mücken. Ein Leuchtkäfer funkte verfrühte Signale aus der Eberesche über die kühle Wasserfläche hinaus, um erschrocken und schneller wieder zurückzuschießen. Einer summte ein paar Takte der Moldau von Smetana.
Schritte im Gras. Der Apotheker, die Fotolaborantin, die Französischlehrerin, der Busfahrer. Drei Studentinnen bildeten einen Knoten. Die Reihe wurde aufgebrochen, bröckelte.
Einige nahmen ihren Stuhl mit, dann immer mehr. Leere Stühle, die eingesammelt und fort getragen wurden. Prüfen. Wenden. Hochheben. Passte die Farbe zur Tischdecke? Wie wird das bei Mondlicht beurteilt? Einer schleppte vier, andere, sich umarmend, auf jeder Seite außen einen. Ob sie zusammenpassten? In der Dunkelheit waren Menschen nur Schemen im Schatten.
Die fort getragenen Stühle blitzten wie wandernde blaue Tropfen zurück in die Stadt, über die Brücke, die Gassen hinauf in die Häuser. Fort vom Ufer. Ausufern. Zurückgekehrte Stille.
Leere Stühle.
Nr. 1.278 blieb lange besetzt. Wortlos. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt starrte er in das dunkle Wasser, das nach kreiselnden Umwegen immer wieder die fließende Richtung fand. Was er sah, war weit weg und tief. Vibrierend verfing sich ein Zweig. Kleinste Partikelchen verwirrten sich zwischen Abgesunkenem. Unrat. Verkohltes. Undurchschaubar modrig. Erinnerung an Zukünftiges. Sein Stuhl strahlte durchsichtig auf, wo das Mondlicht ihn traf. Ein klares, reines Blau. Nur sein Schatten lag sichtbar auf dem Gras und bezeugte Dinglichkeit. Dann ging auch er. Ohne Stuhl. Dennoch blieb der Stuhl verschwunden.
Was hatte Goethe gesagt?
Am nächsten Morgen konnte man in der Lahn verhakt und ans Wehr getrieben himmelwärts greifende blaue Stuhlbeine aus dem Frühnebel ragen sehen. Einzelne, verstoßene, missachtete.
Nachdem aber die Sonne den weißlichen Dunst unter die Büsche getrieben hatte, verloren auch sie sich im Blau des Himmels.
Dem Ufer blieben nur die Schatten der Nummern.